Menschen

100 Jahre und mehr

Die Altersgruppe der 100-Jährigen wird in den kommenden Jahrzehnten überproportional anwachsen. Doch wie lebt es sich mit 100 Jahren und älter? Herta Bornmann (105) und Karl Drechsler (100) gewähren uns einen Einblick in ihren Alltag, der zeigt: Auch ein Leben jenseits der 100 hat Qualität.

Zwei 100-Jährige stellen sich vor

Herta Bornmann, 105 Jahre alt

Herta Bornmann (105)

Persönliche Daten: Geboren 1913 in Wuppertal, Hausfrau, verwitwet, zwei Kinder, wohnhaft wieder in Wuppertal.

Merkmal: Hoch an Jahren und Sympathie.

Hobbys: Familie, Spazierengehen, Zeitunglesen.

Zufriedenheitsindex: +10.

Schönste Lebenszeit: Als die Kinder noch klein waren.

Lebensmotto: Alles mit Ruhe angehen.

Immer alles mit Ruhe angehen

Herta Bornmann ist zufrieden, sehr zufrieden. Sie freut sich, als Besuch kommt. Seit mehr als 10 Jahren nun ist das städtische Altenheim in Wuppertal-Cronenberg ihr Zuhause. Sie schätzt die Lage mitten im Grünen, das Vogelgezwitscher am frühen Morgen und die täglichen Spaziergänge im Park.

Adrett gekleidet sitzt die 105-Jährige aufrecht in ihrem Sessel. In ihrer Lieblingsbluse fühlt sie sich wohl. Das Muster mit den zarten Wiesenblumen steht ihr ausgesprochen gut. „Eigentlich ein altes Schätzchen“, erzählt die alte Dame. Früher hat sie diese Bluse immer zum Wandern getragen, damals in Oberstdorf. Oft sind sie und ihr Mann schon um 5 Uhr in der Früh zu ihren Touren aufgebrochen. Doch das ist lange her. Ihr Mann ist vor über 30 Jahren gestorben. Das war eine schwere Zeit, in der ihr auch schon mal die Lust am Leben vergangen war. Ihr Blick fällt wieder auf die Bluse. „Das Material fühlt sich immer noch gut an“, sagt Herta Bornmann, während sie mit der rechten Hand über den Blusenärmel streicht.

Und was ist ihr Geheimrezept für eine gute Gesundheit bis ins hohe Alter? Immer aktiv bleiben und die Dinge gelassen nehmen. Auch wenn mal etwas nicht ganz so rund läuft oder das Essen nicht ganz so schmackhaft ist, sie beschwert sich nie. „Über solche Kleinigkeiten ärgere ich mich doch nicht“, schüttelt die Seniorin den Kopf. Zudem seien die Pflegerinnen und Pfleger so „furchtbar nett“ zu ihr. Das sei wichtig.

Die Familie – ein wichtiger Anker

Jeden Tag bekommt Herta Bornmann Besuch von ihrer Tochter, die ihr dann aus der Zeitung vorliest und ihr Gesellschaft leistet. Ihr Leben lang hat sich die Wuppertalerin dafür interessiert, was in der Welt, vor ihrer Haustür und in der Familie passiert. Viele Bilderrahmen schmücken das Sideboard. Inzwischen hat sie eine große Familie – sie ist gewachsen, von Generation zu Generation. Und bei jedem Familienfoto weiß Herta Bornmann genau, was sich im Leben ihrer Liebsten gerade abspielt. Da ist der Enkel, der als Matrose um die Welt fährt, aber auch die Großnichte, die nun schon ihr drittes Kind hat. Herta Bornmann ist bestens informiert, immer mittendrin und stets in Kontakt. Das tut ihr gut.

„Meine Mutter hat in ihrem Leben viel geleistet“, diesen Satz wiederholt Herta Bornmanns Tochter gleich mehrfach. Die Wertschätzung, die die Familie ihrem ältesten Mitglied entgegenbringt, lässt sich auch an der Körperhaltung und der Ausstrahlung der alten Dame ablesen. Immer wieder huscht ein Lächeln über das faltige Gesicht, manchmal ein wenig verschmitzt, aber stets offen. Und dann ruht Herta Bornmann wieder ganz in sich.

Facettenreich: Ein langes Leben hält vieles bereit

Geboren im Februar 1913, hat Herta Bornmann nicht nur zwei Weltkriege, sondern auch ein sich ständig wandelndes politisches Deutschland miterlebt – vom Kaiserreich über Hitlers NS-Regime und die DDR-Zeiten bis hin zum wiedervereinigten Deutschland. Der Liebe wegen war die Wuppertalerin bereits in den 1930er-Jahren nach Weimar gezogen. Noch heute schwärmt sie von ihrer Zeit in der Goethe-Stadt. Hier verbrachte sie die schönsten Jahre ihres Lebens, zog die beiden Kinder groß. Auch wenn die Nachkriegsjahre nicht leicht für sie waren. Bis ihr Mann 1949 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, versorgte sie die Familie allein. „Es gab kaum etwas. Da musste man ideenreich und fleißig sein“, erzählt die alte Dame.

Doch als die DDR-Führung 1960 die ersten Beschränkungen im Reiseverkehr zwischen West- und Ostberlin verfügte, verließ Herta Bornmann schweren Herzens ihr geliebtes Weimar. Von einem Tag auf den anderen ließ sie alles stehen und liegen und fing mit ihrer Familie in ihrer alten Heimat, in Wuppertal, wieder ganz von vorn an. „Das war ein schwerer Schritt.“

Schwimmunterricht für die Enkel

Nur mit ihrem Bein ist Herta Bornmann im Moment nicht ganz zufrieden. Da ist diese Wunde, die einfach nicht heilen will. Aber das wird schon wieder, auch wenn ihr die täglichen Spaziergänge in den letzten Tagen sehr fehlen. Sie hat sich immer gerne und viel bewegt. Eigentlich ist sie eine leidenschaftliche Schwimmerin. „Alle meine Enkel haben bei mir schwimmen gelernt“, erzählt sie stolz. „Wasser war immer schon mein Element.“
Und wie steht’s mit der Ernährung? Herta Bornmann schwört auf Gemüse. Das war schon immer so. Ein eigener Gemüsegarten, selbst kochen: Das war über Jahrzehnte hin eine Selbstverständlichkeit. „Und sie war immer eine begnadete Köchin“, erinnert sich ihre Tochter. Sich viel bewegen und gesund ernähren: Ist das die Erfolgsformel für ein langes Leben? Wohl kaum, aber es ist zumindest eine gute Voraussetzung!

Auch genetisch liegt bei der 105-Jährigen keine besondere Disposition für ein besonders langes Leben vor. Ihre Eltern und Geschwister sind nicht besonders alt geworden. „Doch so viel mitzuerleben, so viele verschiedene Lebensphasen durchlaufen zu dürfen und zu sehen, wie die Familie wächst, das ist natürlich etwas sehr Schönes.“ Ihre Stimme klingt milde. Selbst ihre Freundinnen seien inzwischen alle verstorben, murmelt sie. Und dann wird ihr Blick etwas nachdenklicher, bis er sich schließlich im Raum verliert: „Gewünscht habe ich mir das nicht.“ Diese Töne sind neu bei ihr.

Karl Drechsler, 100 Jahre alt

Karl Drechsler (100)

Persönliche Daten: Geboren 1918 in Bochum, Elektrosteiger, verwitwet, zwei Kinder, wohnhaft in Bad Sassendorf.

Merkmal: Kann extrem alt werden.

Hobby: Reisen.

Zufriedenheitsindex: +10.

Schönste Lebenszeit: Jede Zeit war schön, und das ist heute noch so.

Lebensmotto: Immer am Leben teilnehmen.

Ganz wichtig: am Leben teilnehmen

Was muss man tun, um 100 Jahre alt zu werden? Karl Drechsler lacht: „Nichts Besonderes. Immer ein wenig in Bewegung und aktiv bleiben.“ Es ist kaum zu glauben, dass der ehemalige Elektrosteiger Anfang des Jahres bereits seinen 100. Geburtstag gefeiert hat. Doch das Video, das auf seinem Tablet läuft, strotzt nur so vor Feierlaune: Während Gesine vom Gute Laune Duo „Mein schönes Sauerland“ in das Mikrophon schmettert und die 60 Gäste in Stimmung bringt, wiegt sich Karl Drechsler im Rhythmus der Musik auf der Tanzfläche. Am Filmende steigen 100 bunte Luftballons mit den besten Wünschen für die Zukunft in den Himmel.

Erst vor acht Jahren ist der gebürtige Bochumer mit Ehefrau, Tochter und Schwiegersohn nach Bad Sassendorf umgezogen. Alles hat er damals neu gemacht: das Badezimmer selbst umgebaut, Elektroleitungen neu gezogen und die Vorhänge selbst genäht. Wenige Jahre zuvor hatte er mit seiner damaligen Frau betreutes Wohnen ausprobiert. „Doch das war nichts für uns. Ich hatte nichts zu tun. Das hat mich mürbe gemacht.“ Karl Drechsler fühlt sich in dem Kurort sehr wohl. „Die Wege sind kurz, ich kann viel unternehmen und vor allem haben wir eine gute Nachbarschaft. Ein Schnack am Gartenzaun, Grillabende und gemeinsame Feste – all das gehört dazu.“ Karl Drechsler ist stets ein gern gesehener Gast. Er genießt es, in Gesellschaft zu sein, unterhält sich gerne und ist für kleinere handwerkliche Tätigkeiten immer noch gefragt. „Egal, wo ich eingeladen bin, alle bitten mich, meinen Vater mitzubringen“, bekräftigt seine Tochter, die im gleichen Haus wie Karl Drechsler wohnt. „Und oft ist er dann der Letzte, der nach Hause kommt.“

Selbstversorger – keine Frage

Karl Drechsler versorgt sich selbst. Er kauft ein und kocht. Seine selbstgemachten Frikadellen sind legendär. Dabei achtet er immer noch auf seine schlanke Linie. Jeden Sonntag stellt er sich auf die Waage. Zeigt diese mal ein wenig zu viel an, fällt die nächste Mahlzeit etwas kleiner aus. Das Kochen hat er erst im Alter von über 90 Jahren gelernt, als seine Frau schwer erkrankte. Er müsste das nicht tun, denn seine Tochter würde ihn gerne verwöhnen. Doch das möchte er nicht. Einkaufen, Kochen, Haushalt – all das füllt seinen Alltag.

In den vergangenen Jahren ist es merklich still um ihn herum geworden. Die Ehefrau, Geschwister, Freunde und Wegbegleiter – viele sind bereits verstorben. Er hat Zeit, viel Zeit. Und die verbringt er oft mit Hilde. Hilde hat er auf einer seiner zahlreichen Ausflugsfahrten kennen und lieben gelernt. Regelmäßig besucht er die 85-Jährige im gut 120 Kilometer entfernten Olpe. Mit dem Auto wäre es ein Katzensprung, mit dem Zug ist es eine kleine Odyssee. Dreimal muss Karl Drechsler umsteigen, bevor er Hilde in seine Arme schließen kann. Bahnsteig rauf, Bahnsteig runter: Das ist manchmal ganz schön anstrengend. Zumal seine Knie nicht mehr so richtig wollen. Ja, die Knie machen ihm zu schaffen. Daher treffen sich Karl und Hilde manchmal auch auf halber Strecke.

Ups and Downs

Wer 100 Jahre lebt, blickt auf eine lange Zeit zurück. „Nicht immer lief alles nach Plan“, bestätigt Karl Drechsler. Es gab auch Rückschläge für den gelernten Elektro- und Rundfunktechniker. Noch in den letzten Kriegstagen 1945, als schon alles verloren schien, verlegte die Wehrmacht seine Luftwaffeneinheit als „geheime Waffe“ an die Oder. Doch er hatte Glück. Sein Vorgesetzter war nicht bereit, die Truppe in einen aussichtslosen Kampf zu schicken. Karl Drechsler konnte fliehen. Da er sich in der Kriegsgefangenschaft sofort als Landwirt hat registrieren lassen, war er einer der ersten Gefangenen, die in die Heimat nach Bochum zurückkehren durften.

Seine jahrzehntelange Tätigkeit in einer Kokerei, bei der er Tag für Tag hochgiftigen Schadstoffen wie Benzol ausgesetzt war, bekam er mit einer Krebserkrankung quittiert. Doch die war heilbar. Sucht Karl Drechsler heute seinen Hausarzt auf, verabschiedet dieser ihn meistens mit den Worten: „Kommen Sie bitte erst wieder, wenn Sie wirklich krank sind.“

Die Rückschläge konnten seiner positiven Grundeinstellung zum Leben nichts anhaben. „Es musste ja immer weitergehen“, so der lebensbejahende Senior.

Augen auf

Karl hat diese Woche noch viel vor. Morgen wird das Ergometer geliefert. Damit möchte er seine Beinmuskulatur etwas kräftigen. Dann schmerzen vielleicht auch die Knie nicht mehr so stark. Und übermorgen geht es dann wieder Richtung Olpe. Hilde wartet schon und freut sich darauf, ein paar gemeinsame Tage zu verbringen. Die beiden haben eine Kurzreise nach Bad Wildungen geplant. Eine Unterkunft ist noch nicht gebucht. Doch das ist schnell gemacht. In dem nordhessischen Staatsbad kennt der 100-Jährige sich aus. Und danach? Reisepläne gibt es viele: an die Mosel, in den Schwarzwald oder an die Nordsee. Flexibel bleiben, die Schattenseiten des Lebens akzeptieren, neue Wege gehen, immer in Bewegung bleiben, das ist Karl Drechslers Lebensdevise: „Aktiv am Leben teilnehmen und die Augen offen halten. Dann hält das Leben vieles für einen bereit.“

Weiterführende Informationen

Gesundheitszustand, medizinische Versorgung und Herausforderungen:
Aktuelle Hundertjährigen-Studien der Berliner Charité