Innovation

Körper voller Leben: die Mikrobiom-Forschung

Die Mikrobiom-Forschung boomt. Weltweit fließen Milliarden in die Erforschung der den Menschen besiedelnden Mikroorganismen. Nun hofft man auf Anwendungen für Patienten. Der Leiter des Institutes für Mikrobiologie und Hygiene an der Universität Regensburg Prof. Dr. Dr. André Gessner kennt den Stand der Mikrobiom-Forschung und weiß, welche Chancen sich daraus für Prävention und Therapie ergeben.

Bakterien, Viren und Pilze – Billionen von Mikroorganismen leben in Symbiose in und auf dem Menschen. Das Mikrobiom ist ein komplexes und hoch spezialisiertes Ökosystem. Es beeinflusst das Immunsystem, macht Giftstoffe und Krankheitserreger unschädlich und unterstützt Stoffwechselprozesse. Denn immerhin rund 30 Prozent der Stoffwechselprodukte im Blut sind mikrobieller Herkunft. Inzwischen steht fest: Das Mikrobiom ist von unschätzbarem Wert für unsere Gesundheit.

Zehnmal so viele Mikroben wie menschliche Körperzellen leben mit uns auf der Haut, im Mund, in Körperhöhlen – die meisten im Magen-Darmtrakt. Auch wenn die Mikroorganismen aufgrund ihrer Größe nur rund ein bis zwei Kilo unseres Körpergewichts ausmachen, so ist ihr Einfluss gigantisch. Ein Mikroorganismus ist im Vergleich zu einer Körperzelle mit einem Vielfachen an Genen ausgestattet. Während die menschlichen Zellen rund 23.000 Gene enthalten, kommunizieren die Mikroorganismen mittels 3,3 Millionen Gene untereinander und eben auch mit den menschlichen Zellen auf vielfältige Weise.

„Wir machen noch keine Individualanalytik für einzelne Patienten, da es noch keine guten wissenschaftlich gesicherten individuellen Therapieempfehlungen geben kann. Wer das behauptet, ist seiner Zeit optimistisch voraus.“

Prof. Dr. Dr. André Gessner

„Das menschliche Mikrobiom entwickelt sich in den ersten drei bis vier Lebensjahren. Entscheidend ist der Geburtsvorgang, bei dem der keimfreie Embryo erstmalig mit Mikroorganismen in Berührung kommt“, erklärt Professor Gessner. Jeder Mensch hat ein ganz individuelles Mikrobiom. Es ist wie ein Fingerabdruck. „Während wir Menschen uns in unserem Erbgut nur um 0,1 Prozent voneinander unterscheiden, ist unser Mikrobiom zu einem überwiegenden Teil von 60 bis 70 Prozent verschieden.“

Bis ins hohe Alter bleibt das Mikrobiom weitgehend stabil. „Es kann nur durch eine dauerhafte Veränderung der Lebensweise modifiziert werden“, erklärt der Mikrobiologe. „Dies geschieht z. B. bei einer Ernährungsumstellung, aber auch regelmäßiger Nikotin-, Medikamenten- oder auch Süßstoffkonsum lässt sich an der Zusammensetzung des Mikrobioms ablesen. Die Einnahme von Antibiotika hat ebenfalls einen nachhaltigen Einfluss.“

Das haben wir bisher gelernt

• Je vielfältiger ein Mikrobiom ist, desto besser ist es für die Gesundheit. • Eine gemischte Ernährung mit pflanzlichen Fasern wirkt sich durchweg positiv auf das menschliche Mikrobiom aus. • Selbst bei nur kurzer Antibiotikabehandlung kann sich das Mikrobiom nachhaltig verändern.

Die Wissenschaft ist begeistert, doch wissen wir noch zu wenig

Seit elf Jahren erforschen Wissenschaftler das Mikrobiom. „Das ist ein extrem kurzer Zeitraum, doch der Enthusiasmus ist groß“, so Professor André Gessner. Inzwischen gibt es über 60.000 Publikationen zu diesem Thema. „So etwas habe ich in 30 Jahren Universitätstätigkeit in keinem anderen Forschungsgebiet erlebt, weder bei Krebs noch HIV.“ Doch tatsächlich steckt die Mikrobiom-Forschung noch in den Kinderschuhen: „Wir wissen im Moment weniger als ein Prozent dieser komplexen Zusammenhänge. Bis auf einige wenige Ausnahmen sind wir noch weit davon entfernt, wissenschaftlich gesicherte individuelle Therapieempfehlungen geben zu können.“ Die zahlreichen Studienergebnisse lassen sich noch nicht replizieren. Die gefundenen Effekte sind manchmal sehr klein und die große Mehrheit der Bakterien konnte noch nicht angezüchtet und genauer untersucht werden.

Die Herausforderung: Routinestandards entwickeln

Die Durchführung von Mikrobiom-Analysen ist längst noch nicht standardisiert. Dies beginnt bereits bei der Frage: Wie gewinne ich eine Mikrobiom-Probe? Die Sequenzanalyse ist ein sehr komplexes Verfahren. Schon winzige Veränderungen des Prozesses führen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Daher ist auch die Mikrobiom-Analyse immer noch Gegenstand der Forschung. „Hier gilt es, Standards zu entwickeln, um qualitativ gesicherte Analysen erstellen zu können“, betont Professor Gessner. „Daran arbeiten wir intensiv in Kooperationen mit anderen europäischen Sequenzierzentren.“

Next Generation Sequencing (NGS) in der Mikrobiom-Forschung

Das Herzstück der Mikrobiom-Forschung ist das Next Generation Sequencing (NGS). Diese Form der Hochdurchsatz-Sequenzierung hat die mikrobiologische Forschung revolutioniert.

Mit der Schlüsselmethode lassen sich Millionen DNA-Fragmente in einem einzigen Sequenzierlauf identifizieren.

Die Erkenntnis: Alles hängt mit dem Mikrobiom zusammen

Es gibt, da sind sich Wissenschaftler sicher, fast keine Erkrankung des Menschen, die nicht in einem Zusammenhang mit dem Mikrobiom steht. Auch wenn eine Kausalität noch nicht nachgewiesen ist. Doch bei einigen Krankheiten weiß man bereits, dass sie durch ein verändertes Mikrobiom ausgelöst werden können. Das untersuchen Wissenschaftler mithilfe gnotobiotischer – also zunächst keimfreier, dann gezielt besiedelter – Mäuse. Durch die Gabe einzelner Mikroben stellen sie fest, inwieweit eine Erkrankung entsteht, wie sie sich verändert, ob sie schwerer oder leichter verläuft. „Es gibt bereits gute Untersuchungen für kausale Zusammenhänge mit dem Mikrobiom bei Tumorerkrankungen, Übergewicht, Depression, Asthma oder Erkrankungen des Herz-Kreislauf- und Immunsystems“, zählt Professor Gessner auf.

The Human Microbiome Project

Lange Zeit lag der Fokus der medizinischen Mikrobiologie auf pathogenen Mikroben und deren Bekämpfung. Dies änderte sich schlagartig mit dem „Human Microbiome Project“ (2007–2012). Damit legten die US-amerikanischen National Institutes of Health den Grundstein für die Mikrobiom-Analyse. Ziel dieser Initiative war es, einen Atlas des menschlichen Mikrobioms zu erstellen und damit die Basis für das funktionelle Verständnis der Mikroorganismen zu legen. Darüber hinaus wollte man aber auch Erkenntnisse darüber gewinnen, welche Bedeutung das Mikrobiom für die Gesundheit und das Wohlbefinden des Menschen hat.

Hoffnung am Horizont: personalisierte Therapien

Basierend auf den Erkenntnissen der Mikrobiom-Forschung gibt es jedoch schon heute verschiedene Therapieansätze. Dazu zählen die Gabe von Präbiotika, also Wirkstoffen, die die Darmbakterien in Vermehrung oder Aktivität beeinflussen, oder die fäkale Mikrobiota-Transplantation (FMT), auch Stuhltransplantation genannt. Dabei wird die Darmflora eines gesunden Spenders, der zuvor gründlich auf Infektionen untersucht wurde, auf einen erkrankten Menschen übertragen, dies sogar inzwischen in Kapselform. Doch mahnt der Regensburger Mikrobiom-Experte zur Vorsicht: „Wir wissen noch viel zu wenig über das Mikrobiom. Sollten wir ein falsches Mikrobiom transplantieren, könnte dies vielleicht in zehn Jahren eine schwere Erkrankung auslösen. Ich rate daher dringend, die FMT nur bei lebensbedrohlichen Erkrankungen durchzuführen wie bei der Graft-versus-Host-Reaktion oder der Clostridium-difficile-Infektion.“

„Wir brauchen Medikamente, die auf den Patienten, seine Erkrankung und seine Gene abgestimmt sind, aber auch auf seine Mikroorganismen. Um die richtigen Medikamente auswählen zu können, ist es wichtig, zu wissen, welche Bakterien wir haben. Bereits in den kommenden Jahren könnte die Mikrobiom-Analyse bei schweren chronischen Erkrankungen daher zur Standarduntersuchung werden.“

Prof. Dr. Dr. André Gessner

Doch „One size fits all“ – das wird es in der Medizin zukünftig immer weniger geben. Denn individuelle Mikrobiome erfordern individuelle Behandlungen. So hofft man auf zahlreiche neue personalisierte Therapien im Kampf gegen Krebs, Übergewicht oder Depressionen. Besonders viel verspricht sich Professor Gessner auch von der Behandlung mit gezielt ausgewählten lebenden Bakterien, den sogenannten Probiotika. Auch wenn die Evidenz von Probiotika bislang nicht gut ist, erhofft er sich positive Effekte von modernen Probiotika. Probiotika 2.0 sind lebende Stämme, die auch stabil im Darm bleiben. „Aktuelle Probiotika haben noch keine „Nischenfitness“. Sobald man sie absetzt, sind sie auch schon wieder aus dem Darm verschwunden“, erklärt der Wissenschaftler. „Ich rechne damit, dass nachhaltig wirkende Bakterienstämme bereits in den kommenden Jahren verfügbar sind, vielleicht auch schon in Kürze.“

Ein weiterer Behandlungsansatz mit Potenzial könnte das „Drugging the Microbiom“ sein, so Gessner. Dabei werde nicht der Mensch, sondern werden Bakterien mit Pharmaka behandelt. Beispiel Herz-Kreislauf-Forschung: Es gibt Darmbakterien, deren Gene Fette aus der Nahrung in den sehr ungünstigen Fettstoff Trimethylamin (TMA) umwandeln. Wird TMA vom Körper aufgenommen, entsteht Trimethylaminoxid (TMAO). TMAO sorgt dafür, dass der Fettstoffwechsel nicht richtig funktioniert und deshalb Cholesterin in größeren Mengen in den Gefäßwänden abgelagert wird. Und das führt zu einer Arteriosklerose. Neue Medikamente könnten demnächst die Enzyme in den Bakterien stoppen, die den schlechten Stoffwechsel verursachen, und vorbeugend gegen Herzinfarkt verabreicht werden.

Doch bei aller Begeisterung für die sich abzeichnenden neuen Therapieansätze und der Goldgräberstimmung mahnt Professor Gessner: „Die Mikrobiom-Forschung ist hochkomplex. Bislang stehen wir noch am Anfang. Wichtig ist ein seriöser Umgang mit diesem Thema. Erst wenn uns eine ausreichend standardisierte Routinediagnostik zur Verfügung steht, können wir auch gesicherte Therapieempfehlungen entwickeln. Doch all das braucht Zeit.“

Prof. Dr. Dr. André Gessner leitet am Institut für Mikrobiologie und Hygiene an der Universität Regensburg eine große Forschungsgruppe zum Mikrobiom. Aktuell untersuchen die Wissenschaftler in Regensburg unter anderem den Zusammenhang zwischen Immunsystem und Mikrobiom oder zwischen der Graft-versus-Host-Reaktion und dem Mikrobiom. Das Institut für Mikrobiologie und Hygiene ist das einzige von der Deutschen Akkreditierungsstelle (DAkkS) akkreditierte Labor für Mikrobiom-Analysen und Ringversuchspartnerlabor für Mikrobiom-Analysen.

Prof. Dr. Dr. André Gessner