Innovation

Ziemlich digital und virtuell

Wie wird die Medizin der Zukunft aussehen? Werden smarte Toiletten den Zuckerspiegel messen und Mini-Roboter durch den Körper kriechen, um Tumore zu entdecken? Die Wissenschaftsjournalistin Eva Wolfangel hat sich umgesehen und beobachtet, was heute schon möglich ist und morgen möglich sein könnte.

Medizin der Zukunft Gadgets

Die smarte Matratze vermeldet am Morgen einen unruhigen Schlaf, die Emotionserkennung des Smartphones schickt ein aufmunterndes Smiley und rät: „Gehen Sie eine Runde um den Block. Sie haben sich in den vergangenen 14 Tagen weniger bewegt als 87 Prozent ihrer Altersgenossen in deutschen Großstädten. Das korreliert hoch mit Depressionen.“ Beim Verlassen des Hauses meldet die Smartwatch: „Ihr Blutdruck ist ungewöhnlich hoch, Ihr Arzt ist informiert“ – und schon klingelt das Handy und das vertraute Gesicht des Arztes erscheint auf dem Display. „Die Sensoren Ihres Autos melden mir, dass Sie verstärkt unaufmerksam und müde sind, und Ihre smarte Toilette hat mir bedenkliche Urindaten übermittelt. Wir müssen reden.“ Er rät zu einem Nano-Roboter, der sich auf den Weg durch den Körper macht und verdächtige Stellen meldet. Sollte er einen Tumor entdecken, könnte sein Kollege folgen – ein Milli-Roboter, der Medizin punktgenau ausliefert –, sodass die Nebenwirkungen der Chemotherapie kaum zu spüren sind. Ist das die Gesundheitsversorgung der Zukunft?

Die Revolution im Hintergrund

Entsprechende Mini-Roboter werden in der Tat derzeit in verschiedenen Forschungslabors entwickelt – noch kriechen sie durch keinen lebendigen Körper, sondern durch nachgebaute Speiseröhren oder Tierfleisch, aber Forscher sind überzeugt, dass sie in etwa zehn Jahren in Menschen unterwegs sein werden. Doch die größere Revolution im Gesundheitsbereich geschieht gerade im Hintergrund: Technologien, die entweder das Haus vernetzen oder Fahrzeuge oder Menschen untereinander – von der Virtual-Reality-Brille über das autonome Auto bis zu Fitness-Armbändern aller Art, könnten die Diagnose der Zukunft radikal verändern. Schließlich transportieren all die Daten, die solche Geräte sammeln, wertvolle Informationen über den Gesundheitszustand ihrer Nutzer. Das werde das Gesundheitssystem revolutionieren, sagt Brooke Basinger von Verily (vormals Google Life Sciences), einer Forschungstochter des Alphabet-Konzerns: „Mit diesen Informationen können wir viel bessere Entscheidungen treffen, als wir es heute tun.“ Es könnten ganz neue Zusammenhänge erkannt werden, auch zwischen Medikamenteneinnahme und -wirkung.

Auch Patientenakten werden digital.

Dr. Google und der Patient

Doch beim Stichwort Google klingeln bei vielen Deutschen die Alarmglocken: Wollen wir unsere persönlichsten Daten einem US-Konzern anvertrauen, dessen Geschäftsmodell darin besteht, Daten zu sammeln und zu verkaufen? Anbieter, die einen guten Schutz der Privatsphäre versprechen, könnten hier durchaus noch das Rennen machen. Vielleicht ist es aber auch schon zu spät: Forscher haben immer wieder gezeigt, dass man allein aus Daten, die wir öffentlich teilen, vieles über uns berechnen kann: Margaret Mitchell von Google Research beispielsweise zeigte, dass allein aus den Facebook-Nachrichten eines Nutzers errechnet werden kann, ob er eine Depression hat. Sie versah ihre Studie mit dem Hinweis, dass solche Forschungen missbraucht werden könnten. Und dass es dennoch wichtig sei – schließlich könnte man solchen Nutzern Hilfe anbieten, bevor es zu spät ist.

In einem anderen Zusammenhang genießt Google großes Vertrauen: als Dr. Google. Immer mehr Patienten informieren sich im Internet über ihre Leiden. Während Patienten in einer Bertelsmann-Studie berichten, dass sie sich nicht trauen, das ihrem Arzt zu berichten, sind manche Ärzte genervt, dass Patienten „immer alles besser wissen“. Womöglich sollten Ärzte hier offener sein: Patienten äußerten nämlich in der Studie, dass sie im Internet Trost finden, beispielsweise von Gleichgesinnten – und der kommt angesichts der knappen Zeit im Arztgespräch häufig zu kurz.

Ist es von daher an der Zeit, den Arzt-Patienten-Kontakt neu zu überdenken und beispielsweise komplett in den digitalen Raum zu verlegen? Ian Tong vom amerikanischen Anbieter Doctor On Demand sieht beispielsweise seine Patienten schon heute vor allem per Videochat, was der Beziehung keinen Abbruch tue. „Die Technologie öffnet hier ein Fenster: Ich kann in die Wohnung der Patienten schauen.“ Dank der Daten von smarten Uhren sei er in Zukunft zudem besser informiert über deren Alltag als ein Arzt, der seine Patienten nur einmal im Quartal in der Praxis empfängt und sich mündlich berichten lässt, wie es ihnen geht. Telemedizin ist im Kommen, auch in Deutschland wird aktuell die Rechtslage diskutiert. Ian Tong sagt: „Wichtig ist, dass es einen persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient gibt. Das Medium an sich ist egal – und womöglich einfach auch nur Gewöhnung.“

Digitalisierung in der Praxis

Technologien der Zukunft

Eine andere radikale Form der Telemedizin demonstriert der französische Notarzt Louis Rouxel, wenn er seine Erfindung präsentiert: Vor ihm liegt der Patient, er hat ihn mit verschiedenen Messgeräten versehen: Blutdruck, Sauerstoffsättigung des Blutes, Blutzucker, Temperatur und auch ein mobiles EKG-Messgerät. Sie alle übertragen ihre Daten per Bluetooth, die Ergebnisse tauchen direkt vor seinen Augen in den Gläsern einer Augmented-Reality-Brille auf. Schließlich erscheint ein menschlicher Körper in einer Art Hologramm, auf dem der Arzt mit wenigen Gesten in der Luft Verletzungen und Verbrennungen einzeichnet.

Dann eröffnet er eine Videokonferenz mit einem Experten für das Problem des Patienten: Auch sein Kollege erscheint ebenfalls virtuell eingeblendet am Rande seines Blickfeldes, der Blick zum Patienten ist immer noch frei. Der Experte hat bereits sämtliche Informationen, auch das Bild mit den Verletzungen, Rouxel muss gar nichts mehr erklären. Sie tauschen sich über Maßnahmen aus und entscheiden gemeinsam, ob der Patient in die Klinik muss.

Rouxel hat das System selbst erfunden, weil er sich geärgert hatte, dass er in Notfällen so wenig Zeit für den Patienten selbst hat, weil er mit der Technik, mit Telefonaten mit der Zentrale und Experten beschäftigt war. Noch sind solche Produkte nicht auf dem Medizintechnikmarkt. Doch das System Nomadeec von Rouxel durchläuft gerade das Genehmigungsverfahren der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA und soll, wenn alles klappt, in etwa einem Jahr auf dem Markt erhältlich sein. „Wir starten in den USA, weil die Menschen hier offener sind für neue Technologien“, sagt Stéphanie Dulout, Managing Director von Nomadeec. Im Jahr darauf will sie den europäischen Markt angehen. „Viele ältere Ärzte sind noch nicht an Technologie gewöhnt“, sagt sie, manche nutzen nicht einmal Computer, „von daher wird es ein wenig dauern, bis solche Systeme akzeptiert sind“. Doch dann könnten bessere und schnellere Entscheidungen getroffen werden, und die Aufmerksamkeit bleibt beim Patienten. Gerade für ländliche Gebiete, in denen es wenige Spezialisten gibt, und für Entwicklungsländer könnte das enorme Vorteile bringen: „Der Experte kann weit entfernt sitzen“, sagt sie – er wird von jemandem vertreten, der vor Ort ist, durch dessen Augen er sehen kann und den er anleitet.

Die freie Wissenschafts- und Reportage-Journalistin Eva Wolfangel schreibt über Zukunftstechnologien und deren gesellschaftliche Implikationen. Ihre Schwerpunkte sind u.a. Künstliche Intelligenz, Virtuelle Realität, Robotik, Mensch-Maschine-Interaktion.

Twitter @evawolfangel