Innovation

Die Digitalisierung und die Medizin

Die Digitalisierung macht in unserem Alltag vieles leichter – auch in der Medizin: Mithilfe von Big Data und künstlicher Intelligenz kann sie fast jeden Aspekt der medizinischen Versorgung und Behandlung von Patienten beeinflussen. Aber wie? Ein Blick in die Zukunft der Medizin.

Die Hitzewelle im August 2003 war mörderisch. Nicht in den Tropen, sondern mitten in Europa. Fast 15.000 Franzosen kamen dabei ums Leben – in weniger als zwei Wochen.1 Tausende überfüllten dort die Notfallaufnahmen, die Krankenhäuser erreichten die Grenzen ihrer Kapazitäten, Ärzte, Krankenschwestern und Pflegekräfte arbeiteten bis zur Erschöpfung. Trotz der Notmobilisierung aller Gesundheitsressourcen – die Hitzewelle erreichte Frankreich ausgerechnet in einem Ferienmonat – starben fast 42 % der Hitzeopfer.

Dieser nationale Notstand zeigt, wie wichtig Prognosen für kommende Notfälle sein können, um für diese besser zu planen und zu organisieren. Aber kann man Notfälle wie ein Meteorologe prognostizieren und berechnen, wie viele Patienten an einem Tag oder zu einer bestimmten Stunde eine Klinik aufsuchen? Damit beschäftigen sich aktuell vier französische Kliniken mit Unterstützung der Assistance Publique – Hôpitaux de Paris, Europas größter Universitätsklinik, um das vorhandene Personal optimal einzusetzen, die Wartezeiten für Patienten zu verringern und somit die medizinische Versorgung zu verbessern. Gemeinsam mit dem Technologieunternehmen Intel wurde ein Analysesystem entwickelt, das Notfallbesuche und Krankenhausaufnahmen für die kommenden 14 Tage vorhersagt. Das System nutzt dafür eine Datenbank, die anonymisierte Informationen von 470.000 Patienten enthält. Diese wurden über mehr als ein Jahrzehnt gesammelt und werden für die Analyse mit Daten und Faktoren wie Grippewellen oder Temperaturwerten kombiniert. Das Computerprogramm soll dazu beitragen, die medizinische Versorgung nachhaltig zu verbessern.

Partnerschaften für eine bessere medizinische Versorgung

Viele Patienten denken zunächst an Science-Fiction-Szenarien wie Roboterschwestern oder virtuelle Ärzte, wenn es um die digitale Zukunft des Gesundheitswesens geht. Doch es sind solche Computerprogramme, wie sie aktuell die vier Pariser Kliniken testen, die das Gesundheitssystem nachhaltig verändern werden. „Wir stehen vor einer digitalen Revolution in allen Bereichen des Gesundheitssektors – vom Labortisch bis zum Patientenbett“, sagt Vas Narasimhan, CEO von Novartis, dem Mutterkonzern von Sandoz, und ergänzt: „Digitale Technologien und Big Data werden in unzähligen Branchen die Art und Weise der Zusammenarbeit verändern.“ Das gilt auch für Ärzte, Apotheker und Patienten. Die Digitalisierung stellt ihnen eine große Bandbreite an neuen und ganzheitlichen Lösungen zur Verfügung, um bessere Therapie-Ergebnisse zu erzielen und damit das Krankheitsaufkommen zu reduzieren.

Digitale Lösungen können den Forschungsprozess für neue Medikamente unterstützen, indem sie uns helfen, früher unterversorgte oder nicht untersuchte Gruppen von Menschen zu erreichen. Dadurch können wir neue und bessere Medikamente zu den Patienten bringen, die sie dringend brauchen.

Vas Narasimhan, CEO von Novartis

Big Data im Gesundheitswesen bedeutet aber auch interdisziplinäre Partnerschaften. Schon heute arbeiten Hightech-Giganten wie IBM, Apple oder Google eng mit Gesundheitsorganisationen zusammen, damit die Patienten von der Flut der gesammelten Daten direkt profitieren können. Große Datenmengen werden mithilfe künstlicher Intelligenz und entsprechender Software verarbeitet. Dabei „lernen“ die Programme selbstständig, wie sie die Daten richtig nutzen und anwenden. Auf diese Weise wird die medizinische Versorgung in den nächsten Jahren einen Quantensprung machen. Denn je mehr Daten von Patienten gesammelt werden, desto besser können künftig Diagnosen, Medikamente oder Behandlungsart auf den Patienten individuell zugeschnitten werden. Das kann bis in den Alltag eines Patienten hineinreichen. Zum Beispiel, wenn er digitale Geräte benutzt, die seine Körperfunktionen überwachen. Auf diese Weise kann der Patient aktiv seine Gesundheit oder eine erforderliche Therapie unterstützen.

Intelligente Systeme retten Leben

In der Regel verlassen sich Ärzte auf ihre Ausbildung, Erfahrung und auf medizinische Diagnosegeräte, wenn ein Patient eine Kombination von Symptomen zeigt. Kardiologen beispielsweise vertrauen oft auf das Echokardiogramm, um Herzerkrankungen zu diagnostizieren. Das ist nicht falsch. Aber die Diagnose basiert auf einer begrenzten Anzahl von Faktoren. Deswegen sind Diagnosen nur in 80 % der Fälle korrekt. Das behaupten zumindest Forscher am John-Radcliffe-Krankenhaus im englischen Oxford. Es könnte auch bedeuten, dass eine Diagnose gestellt wird, obwohl mögliche andere Risikofaktoren übersehen wurden. Die englischen Forscher wollen diese vermeintliche Unsicherheit bei der Diagnose von Herzerkrankungen reduzieren und haben deswegen ein Programm mit dem Namen Ultromics entwickelt. Es basiert auf künstlicher Intelligenz, analysiert bei jeder bildgebenden Diagnose zusätzliche 80.000 Datenpunkte und erhöht somit die Diagnosegenauigkeit auf 90 %. Gespeist wird das Programm mit Informationen aus einer der größten Datenbanken bildgebender Herz-Diagnostik der Welt – der Standort: die Universität von Oxford. Dieses neue, datenbasierte System, dessen Start noch in diesem Jahr geplant ist, könnte das nationale Gesundheitssystem Großbritanniens um 300 Millionen Pfund (350 Millionen Euro) pro Jahr entlasten.

Mithilfe künstlicher Intelligenz kann eine digitale Datenbank sogar Zugang zu Millionen von Patientenfällen erhalten und dadurch dem einzelnen Patienten helfen. Das war der Fall bei einer 60-jährigen Frau aus Japan. Ärzte der Universität von Tokio konnten mithilfe eines Computersystems von IBM die Gensequenz dieser Frau mit 20 Millionen klinischen Onkologie-Studien aus einer Datenbank abgleichen. Das Ergebnis: Die Ärzte diagnostizierten bei der Frau eine seltene Form von Leukämie und konnten ihr so die richtige und auch erfolgreiche Therapie zur Verfügung stellen. Zuvor hatte die Frau auf konventionelle Therapien nicht reagiert. Das intelligente Computerprogramm benötigte nur zehn Minuten, um bei der Frau diese seltene Form der Leukämie festzustellen. Solche erfolgreichen Geschichten wecken weltweit bei Forschern und Patienten natürlich die Hoffnung, dass ein digitalisiertes Gesundheitssystem dabei hilft, Krankheitsursachen zu finden und sie zu heilen.

Kognitives Computing verbessert die Pflege

Besonders Patienten mit einer Krebsdiagnose haben oftmals einen langen, harten Weg der Behandlung vor sich. Ihnen kann eine datenbasierte Diagnose helfen, die richtigen Therapieansätze zu finden. Deshalb hat Novartis eine Initiative zur Optimierung der Krebsbehandlung gestartet. Das Unternehmen hat sich mit IBM Watson Health verbunden und erforscht die Entwicklung einer kognitiven Lösung, die reale Daten und maschinelles Lernen kombiniert. Das Ziel ist es, bessere Erkenntnisse über die zu erwartenden Ergebnisse einer Brustkrebsbehandlung zu erhalten.

Mit der Zusammenarbeit von Novartis und IBM Watson Health können Ärzte anhand von Daten und kognitivem Computing nun besser verstehen, welche Therapie für Brustkrebspatienten die beste ist und welche Informationen für klinische Leitlinien nützlich sind. Das Ziel: die Therapie-Ergebnisse zu verbessern und Erfahrungen für die Zukunft zu sammeln. Diese Zusammenarbeit könnte auch neue Impulse liefern, um die Pflege effizienter zu gestalten – und zwar über die Therapie von Brustkrebs hinaus.

Zugang zu neuen und besseren Medikamenten verbessern

Mithilfe von Big Data und künstlicher Intelligenz könnte auch die pharmazeutische Forschung enorme Fortschritte machen, um Medikamente zu entwickeln, die Symptome lindern und Krankheiten heilen, damit die Patienten wieder gesund werden. „Digitale Technologien“, sagt Novartis-CEO Narasimhan, „haben ein enormes, unentdecktes Potenzial, die Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln zu transformieren.“ In den Datenbanken könnten beispielsweise umfangreiche Daten von chemischen Stoffen gespeichert werden, die helfen können, neue Therapien zu entwickeln, zum Beispiel für seltene Krankheiten. Seine Vision: „Digitale Lösungen können den Forschungsprozess für neue Medikamente unterstützen, indem sie uns helfen, früher unterversorgte oder nicht untersuchte Gruppen von Menschen zu erreichen. Dadurch können wir neue und bessere Medikamente zu den Patienten bringen, die sie dringend brauchen.“

Der Schlüssel zu der Entwicklung der nächsten Generation von Onkologie-Produkten liegt in einem besseren Verständnis für die molekularen Wechselwirkungen von Peptiden und Proteinen. In einem Projekt von Novartis verwenden Forscher verschiedene Methoden des maschinellen Lernens, um vorherzusagen, wie das Andocken von verschiedenen chemischen Verbindungen an Proteine funktioniert. Mithilfe der virtuellen Realität können Wissenschaftler sogar die Wechselwirkung zwischen Wirkstoff und Protein in einer realistischen, lebensechten Umgebung erforschen.

Digitalisierung in der Medizin – Patientenüberwachungsgeräte

Digitalisierung in der Medizin – Krankenhaus-Laptop

Digitalisierung in der Medizin – Tablet mit Büchern

Digitalisierung in der Medizin – Server

Digitalisierung in der Medizin – Formulare

In einem weiteren Projekt, das auf einer Partnerschaft von Novartis mit der Universität Wien beruht, wurde kognitives Computing eingesetzt, um Patienten mit Diabetes oder einer altersbedingten Erkrankung der Netzhaut zu untersuchen. Dabei wurden zwei neue Biomarker entdeckt, die – sollten sie beim Patienten vorhanden sein – es Ärzten ermöglichen, Netzhauterkrankungen vorherzusagen. Und das bereits ein Jahr vor einem spürbaren Krankheitsbeginn. Dadurch können Mediziner jetzt früher mit einer Therapie beginnen, um eine spätere Akutversorgung zu verhindern.

Die Entwicklung von neuen Arzneimitteln wird durch strenge klinische Studien begleitet. Auch hier können digitale Lösungen helfen, den Forschungsprozess zu unterstützen. So demonstrierte der Technologiekonzern Apple 2015, dass Smartphones als ein seriöses Instrument bei der Messung medizinischer Studien eingesetzt werden können. Apple entwickelte dafür die neue Software-Plattform ResearchKit. Sie hilft den Forschern dabei, eine große Anzahl von Studienteilnehmern zu finden. Die Plattform sammelt medizinische Daten zu verschiedenen Erkrankungen einschließlich rheumatoider Erkrankungen und Gehirnerschütterungen. Mit ResearchKit können Wissenschaftler auch Apps programmieren, die Umfragen durchführen oder mithilfe von Smartphone-Sensoren Aufschluss über das Wohlbefinden ihrer Benutzer geben.

Auf dem Weg zur personalisierten Gesundheitsversorgung

Viele Patienten sammeln und kontrollieren heute ihre eigenen Gesundheitsdaten mithilfe von Apps. Aber nur wenn diese Daten mit Fachleuten geteilt werden, haben sie einen medizinischen Nutzen. „Die Fortschritte, die wir in mehreren therapeutischen Bereichen sehen, sind nur möglich, weil die Daten zugänglich sind“, sagt Dr. Spencer Jones, Leiter Medical Affairs bei Sandoz. „Wenn wir aufhören, Gesundheitsdaten zu teilen, stoppen wir die Innovation. Denn erfolgversprechende Lösungen auf der Grundlage künstlicher Intelligenz sind auf riesige Datenmengen angewiesen. Stellen Sie sich vor, wir könnten alle Daten überwachen und sammeln, welchen Einfluss das auf unsere Gesundheit haben könnte“, erklärt Jones.

Und das Daten-Volumen ist in der Tat enorm. Jeder Mensch wird in seinem Leben so viele Gesundheitsdaten generieren, dass damit 300 Millionen Bücher gefüllt werden könnten. Allein in den vergangenen zwei Jahren wurden mehr Daten erfasst als in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor. Für 2020 erwartet IBM Medical, dass sich das Datenvolumen alle 73 Tage verdoppelt. Und zum ersten Mal haben Menschen jetzt auch die technischen Möglichkeiten, diese Datenflut sinnvoll zu verarbeiten.

Viele Patienten denken zu nächst an Science-Fiction-Szenarien wie Roboterschwestern oder virtuelle Ärzte, wenn es um die digitale Zukunft des Gesundheitswesens geht. Doch es sind Computerprogramme, die das Gesundheitssystem nachhaltig verändern werden.

Vas Narasimhan, CEO von Novartis

Wenn Mediziner in Zukunft Zugang zu mehr Gesundheitsdaten bekommen, profitieren davon trotz aller datenschutzrechtlichen Bedenken vor allem die Patienten. Das ist die Vision der groß angelegten Studie „Baseline“. Dafür hat sich Google 2017 mit den Universitäten von Duke und Stanford zusammengetan, um die Daten von rund 10.000 Freiwilligen verschiedenen Alters, Geschlechts und mit unterschiedlicher medizinischer Historie zu erfassen. Das Ziel ist es, die „menschliche Gesundheit zu kartieren“. Die Studienteilnehmer tragen deswegen einen Fitnesstracker, der ihre Herzfrequenzen, Bewegungen und weitere Informationen an eine zentrale Datenbank sendet. Zusätzlich überwacht ein Sensor ihre Schlafmuster. Gesammelt werden auch genomische Daten und weitere Informationen, zum Beispiel über die Gesundheitshistorie, die Familiengeschichten oder die Gefühle der Teilnehmer sowie deren regelmäßige Testergebnisse für Urin, Speichel und Blut.

Digitale Lösungen haben das Potenzial, jeden Aspekt der Medizin zu ändern – ob wie in Paris mit ihrer Hilfe Spitzenzeiten bei Krankenhauseinweisungen vorhergesagt, genombasierte Diagnosen in Tokio gewonnen oder Biomarker in Wien entdeckt werden. Dr. Spencer Jones geht sogar noch einen Schritt weiter: „Wenn wir Krankheiten vorhersagen könnten, könnten wir sie verhindern, bevor sie ausbrechen.“ In der Geschichte der Medizin, so Jones, war die Reihenfolge immer Krankheit, Medizin und erst dann der Patient. „Digitale Angebote können das komplett auf den Kopf stellen.“ Denn vom Labor bis zum Patientenbett wird in Zukunft jeder einzelne Patient im Mittelpunkt der medizinischen Versorgung stehen.

 

Weiterführende Informationen

Interview zu den digitalen Fortschritten in der Pharmaindustrie:
Nachgefragt – bei Christian Pawlu, Leiter der Divisional Strategy bei Sandoz

  1. Denis Hémon, Eric Jougla: Surmortalité liée à la canicule d’août 2003: rapport d‘étape: estimation de la surmortalité et principales caractéristiques épidémiologiques. 25. September 2003, archiviert vom Original am 8. Dezember 2008; abgerufen am 29. November 2013 (PDF).